Interview mit HANNES STÖHR zum Film

Ickarus wird auf die Drogenstation einer Psychiatrischen Klinik eingeliefert. Wie bist du mit diesem sensiblen Thema umgegangen? ? Während meiner 20 Monate Zivildienst bei der Lebenshilfe, Anfang der Neunziger, habe ich zum ersten Mal eine Drogenstation gesehen. Neben Alkohol ging es vor allem um Heroin und Halluzinogene (LSD, Pilze). Für »Berlin Calling« habe ich dann verschiedene Drogeneinrichtungen in und um Berlin (Haus Lenné, Countdown, Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Vivantes, Drogennotdienst, Haus Collignon,) besucht und mir ein Bild von heute gemacht. Insgesamt würde ich sagen, Alkohol ist immer noch die Droge Nummer 1, auch in den Entzugskliniken. Heroin spielt weiter eine Sonderrolle. Dann kommt der ganze Komplex der Partydrogen (THC, Kokain, Amphetamine, MDMA, Ketamin, GHB, Crystal Meth usw.), der mich für einen Film über die Technoszene am meisten interessiert hat. An der Universität Köln arbeitet man gerade an einer Studie über Mischkonsum, vor allem Ecstasy und Amphetaminmissbrauch. Dort habe ich auch recherchiert. Mir war es wichtig, ein realistisches Bild von einer Drogenstation heute zu zeichnen. Für mich macht es keinen Sinn von einer drogenfreien Welt zu träumen, die wird es nie geben. Die Sozialarbeiter haben Recht, wenn sie auf Information und Aufklärung setzen. Ein Film kann die komplexe Drogenproblematik sowieso nicht lösen, aber er kann eben genau hinschauen. Die Freundin von Ickarus, Mathilde (Rita Lengyel), ist in dieser Hinsicht eine spannende Rolle, finde ich. Was geht in einem vor, wenn dein Partner dich mit Drogen betrügt? Oder die Figuren Erbse (RP Kahl) und Jenny (Henriette Müller). Bei den beiden bekommt die Drogenproblematik dann eine starke soziale Komponente, genauso wie bei Crystal Pete (Peter Schneider). Wir haben auf unserer Filmhomepage verschiedene Links zu Drogeneinrichtungen und anerkannten Aufklärungsportalen eingerichtet (z. B. www.partypack.de). Da wird es zum Filmstart sicher spannende Diskussionen geben. Dennoch würde ich den Film nicht als Drogenfilm bezeichnen, es ist ein Musikerporträt und ein Zeitporträt. Die Technogeneration der Neunziger ist für mich in gewisser Weise, was den Umgang mit Rausch und Ekstase angeht, die Nachfolgegeneration der Hippiebewegung und der 68er. Ich habe den Film über die Rolling Stones von Martin Scorsese »Shine a light« sehr gemocht. Die Gesichter der Stones haben aber auch die Frage gestellt »Jungs, wie habt ihr das überlebt?«

Stehen Corinna Harfouch als Ärztin Prof. Dr. Paul und Udo Kroschwald als Vater dann für die 68er Generation? ? Verallgemeinerungen sind immer schwierig. Aber natürlich spielt sich zwischen Ickarus und der Ärztin auch ein Generationenkonflikt ab. Die Ärztin versteht von der Musik von Ickarus genauso wenig wie wahrscheinlich ihre Eltern vom Rock´n Roll. Das ist der Lauf der Zeit. Ich habe versucht, den Generationenkonflikt so zu inszenieren, wie ich ihn empfinde. Die Generation Ickarus hat von den 68ern profitiert, einiges übernommen - die sexuelle Offenheit, die Kultur der Ekstase, den Hedonismus. Andererseits ist die Nachfolgegeneration der 68er ideologieferner, individualistischer und mit einer anderen globalen Situation konfrontiert. Das Klischee unpolitisch will ich ihr nicht anheften. Den Vater von Ickarus würde ich eher als Daedalus bezeichnen, um im Bild zu bleiben. Er warnt seinen Sohn, nicht zu nahe an der Sonne fliegen. Natürlich hinkt der Vergleich. Sicher spielt sich im evangelischen Pfarrershaus Karow ein klassisch bürgerlicher Konflikt ab. Martin Karow, aka Ickarus, hat die bürgerlichen Ideale seines Vaters über Bord geworfen, geht seinen eigenen Weg. Andererseits hat er vom Vater die Liebe zur Musik geerbt. Während sein Bruder Stefan Karow (Peter Moltzen) mehr schlecht als recht den vom Vater vorgezeichneten, bürgerlichen Weg geht, hat Ickarus die Schule abgebrochen und zieht sein eigenes Ding durch. Als Grundgerüst läuft hier die ganz archaische Geschichte von den ungleichen Brüdern und dem verlorenen Sohn.
(Das Interview führte Martin Hildebrandt während der Dreharbeiten.

Quelle: http://www.berlin-calling.de
Eintrag vom: 13.09.2008


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